WIE ES ANFING

Abschied von Michael

 
 

Vor zehn Jahren hast du mir erzählt, du hättest einen Traum gehabt, dass du mit sechzig Jahren sterben würdest. Du hast es mit einem sanften Lachen erzählt. Ich bin erschrocken, damals. Zu wichtig war mir deine Freundschaft, deine Begleitung, dein Segen. Ich versuchte dich festzuhalten, damals.

Du warst siebenundfünfzig Jahre alt geworden, als ich den Anruf bekam, du seist mit einer schweren Lebererkrankung ins Uniklinikum gekommen. Nur eine Transplantation könne noch helfen.

In deinem letzten Jahr habe ich dich dreimal besucht. Beim ersten Mal , das war im August 1997, waren viele um dich herum. Du hast Bilder gezeigt, nie hab' ich gemalt, hast du gesagt, jetzt auf einmal fang' ich damit an. Linien, Farben, Bedeutungen: deinen Weg hast du gemalt. Ich sah: deine Seele schaute zum Licht hin und wendete sich dann zurück, hierher. Alle hofften.

Im Februar 1998 kam ich wieder. Der Tod sah mich aus deinen Augen an. Du wusstest. Ich sah. Es war schwer da hinzuschauen. Wenige schauten hin. Versuchten festzuhalten. Meine Seele begann einzuwilligen. Ich sah, dass du schon eingewilligt hattest. Das Geschenk, eine halbe Nacht an deinem Bett zu wachen. Das Leiden. Am Morgen, als es hell wurde im Zimmer, die Schwester hatte schon geklopft. Einem inneren Impuls gehorchend, nahm ich deine beiden Hände und legte sie auf meinen Kopf. Deine Stimme ist noch bei mir: "Die Kraft des Geistes. Die Kraft des Geistes."

Auf der Intensivstation. Der 1. Mai. Die Transplantation hatte nicht die erhoffte Wende gebracht. Menschen, die dich lieben, haben fast ohne Unterbrechung bei dir gewacht. Ich durfte nochmals zwei Stunden bei dir sein. Jedes lebenswichtige Organ war durch eine medizinische Apparatur am Leben erhalten. Seit Wochen warst du ohne Bewusstsein. Ich sass an deinem Bett. Meine Hände suchten die Berührung. Das Summen der Maschinen. Das pumpende, zischende Geräusch der künstlichen Beatmung.

Ich sang ganz leise Lieder, die mir in den Sinn kamen. Von guten Mächten wunderbar geborgen. Und: Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Ich erzählte halblaut, wie ich es erlebt hatte, als wir uns kennengelernt hatten. 1983. Was mir deine Freundschaft und Begleitung bedeutet. Dass ich dich nicht mehr festhalte, jetzt. Vom Licht. Unter den Augenlidern, abgedeckt mit Salben zum Schutz, flossen Tränen heraus.

Am 7. Mai in der Früh' schaute ich in das innere Bild meiner Erinnerung an die Intensivstation. Das Bett war leer. Drei Stunden später bekam ich die Nachricht von deinem Tod.

Clemens Baumeister

 
Das Leben von Bruder Michael Först
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Michael Först: Sich bei seinem Leben packen lassen
Fotos von Bruder Michael Först